Eine Analyse der Europäischen Entgelttransparenzrichtlinie
„Bevor ich nicht weiß, was ich verdiene, mache ich gar nichts…“ Ab 2026 wird es für Unternehmen in Europa verpflichtend, Gehaltsangaben in ihren Stellenanzeigen zu veröffentlichen. Diese Vorgabe, die durch die Europäische Entgelttransparenzrichtlinie (EU/2023/970) eingeführt wurde, ist Teil verschiedener Ansätze, mehr Transparenz auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen und insbesondere geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede zu reduzieren. Während dieser Schritt auf den ersten Blick positiv erscheint, gibt es zahlreiche Argumente, die sowohl für als auch gegen die Umsetzung dieser Vorschrift sprechen.
Hintergrund
Die Europäische Entgelttransparenzrichtlinie ist ein Schlüsselelement im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede, die trotz aller Fortschritte weiterhin bestehen. In der gesamten Europäischen Union verdienen Frauen im Durchschnitt 14,1 % weniger als Männer für die gleiche Arbeit. Die Richtlinie zielt darauf ab, diesen Missstand zu beheben, indem sie Unternehmen verpflichtet, ihre Gehaltsstrukturen offenzulegen. Neben der verpflichtenden Gehaltsangabe in Stellenanzeigen sind Unternehmen ab einer bestimmten Größe auch dazu angehalten, regelmäßige Gehaltsberichte zu erstellen und sicherzustellen, dass keine Diskriminierung bei der Bezahlung stattfindet. Diese Transparenz soll nicht nur den Gender Pay Gap verringern, sondern auch die allgemeine Fairness und Gerechtigkeit am Arbeitsplatz fördern.
Status quo
In einigen Ländern und Branchen ist die Gehaltsangabe in Stellenanzeigen bereits gängige Praxis. Beispielsweise ist in Österreich seit 2011 eine gesetzliche Verpflichtung zur Angabe von Mindestgehaltsangaben in Stellenausschreibungen verankert. Dies hat zu einer höheren Transparenz geführt und ermöglicht Bewerbern, realistische Gehaltserwartungen zu entwickeln. Auch in den skandinavischen Ländern sowie in einigen US-Bundesstaaten, wie New York und Colorado, sind Unternehmen bereits verpflichtet, Gehaltsinformationen in Stellenanzeigen offenzulegen.
Eine Studie von stellenanzeigen.de zeigt, dass etwa 32 % der deutschen Unternehmen in ihren Stellenanzeigen Gehaltsangaben machen. Vor allem im öffentlichen Dienst und in tarifgebundenen Unternehmen ist dies häufig der Fall. Dort werden oft Tarifgruppen oder Entgeltstufen genannt, die dem Bewerber einen klaren Rahmen bieten. Im privaten Sektor ist die Praxis jedoch weniger verbreitet. Hier geben viele Unternehmen aus Angst vor Wettbewerbsnachteilen oder interner Unruhe keine konkreten Gehaltsdaten preis.
Gründe für die Gehaltsangabe
- Erhöhte Transparenz und Vertrauen
Die Offenlegung von Gehaltsinformationen schafft Vertrauen bei potenziellen Bewerbern. Sie signalisiert, dass das Unternehmen Wert auf Fairness und Transparenz legt, was die Unternehmenskultur positiv beeinflussen kann. Transparente Gehaltsstrukturen machen es den Mitarbeitern leichter, ihre Karriereplanung auf eine realistische Basis zu stellen.
- Reduktion des Gender Pay Gaps
Ein zentrales Ziel der Gehaltstransparenz ist die Reduktion des Gender Pay Gaps. Durch klare und öffentliche Gehaltsangaben wird es schwieriger, ungerechtfertigte Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen zu rechtfertigen. Unternehmen, die Gehälter transparent machen, setzen ein starkes Signal gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung.
- Bessere Bewerberqualität
Stellenanzeigen mit Gehaltsangaben ziehen gezielt Bewerber an, die sich im angegebenen Gehaltsrahmen wiederfinden. Dies reduziert nicht nur die Anzahl unpassender Bewerbungen, sondern führt auch zu einem effizienteren Auswahlprozess. Bewerber, die bereits frühzeitig über die Vergütung informiert sind, können ihre Entscheidung besser fundieren und gehen motivierter in den Bewerbungsprozess.
- Kosteneffiziente Rekrutierung
Die Offenlegung des Gehaltsrahmens von Anfang an spart Zeit und Kosten im Rekrutierungsprozess. Unternehmen können sich auf Bewerber konzentrieren, die mit den angebotenen Konditionen einverstanden sind, wodurch langwierige Gehaltsverhandlungen vermieden werden. Dies verkürzt den Einstellungsprozess und führt schneller zu einer Besetzung der Position.
- Förderung einer offenen Unternehmenskultur
Unternehmen, die Gehaltsangaben offenlegen, fördern eine Kultur der Offenheit und Fairness. Dies kann nicht nur das Employer Branding stärken, sondern auch das Engagement und die Loyalität der Mitarbeiter erhöhen. Eine offene Gehaltsstruktur signalisiert, dass das Unternehmen Wert auf Gleichberechtigung und Transparenz legt, was das Vertrauen der Belegschaft stärkt.
Argumente gegen das „Preisschild“ an der Stellenausschreibung
- Eingeschränkte Flexibilität
Die Angabe eines festen Gehalts oder einer engen Gehaltsspanne kann die Flexibilität im Einstellungsprozess einschränken. Unternehmen könnten Schwierigkeiten haben, hochqualifizierte Bewerbende zu gewinnen, wenn diese sich aufgrund des veröffentlichten Gehalts unterbezahlt fühlen. Darüber hinaus können enge Gehaltsspannen die Möglichkeit zur Verhandlung einschränken, was insbesondere bei der Rekrutierung von Top-Talenten problematisch sein könnte.
- Wettbewerbsnachteile
Offengelegte Gehaltsinformationen könnten Wettbewerber dazu verleiten, gezielt Mitarbeitende abzuwerben. Besonders in Branchen mit hohem Fachkräftemangel könnte die Preisgabe von Gehältern dazu führen, dass Konkurrenten ihre Angebote entsprechend anpassen und so qualifizierte Mitarbeitende abwerben.
- Interne Unruhe
Die Transparenz der Gehälter kann zu Unruhe innerhalb des Unternehmens führen, insbesondere wenn Mitarbeitende erfahren, dass Kollegen für vergleichbare Positionen besser bezahlt werden. Dies kann zu Unzufriedenheit, sinkendem Engagement und letztlich zu einer höheren Fluktuation führen. Es besteht das Risiko, dass interne Vergleiche die Unternehmenskultur negativ beeinflussen.
- Missverständnisse bei der Interpretation
Gehaltsspannen oder die Angabe eines Durchschnittsgehalts können bei Bewerbenden falsche Erwartungen wecken. Ohne den genauen Kontext zu kennen, können Bewerbende die Gehaltsangaben missverstehen und enttäuscht sein, wenn das tatsächliche Angebot nicht den Erwartungen entspricht. Dies könnte den Rekrutierungsprozess erschweren und zu einem negativen Arbeitgeberimage führen.
- Komplexität in der Darstellung
In vielen Unternehmen bestehen komplexe Vergütungsmodelle, die neben dem Grundgehalt auch Boni, Provisionen, Sozialleistungen und andere Vergünstigungen umfassen. Diese Faktoren in einer Stellenanzeige verständlich und umfassend darzustellen, ist eine Herausforderung. Eine zu einfache Darstellung könnte die Komplexität der Vergütung nicht ausreichend abbilden, während eine zu detaillierte Darstellung Bewerber abschrecken könnte.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Einführung einer Pflicht zur Gehaltsangabe in Stellenanzeigen ist eine bedeutende Änderung, die sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Unternehmen sollten diese Entwicklung als Möglichkeit sehen, ihre Gehaltsstrukturen zu überdenken und eine faire und transparente Vergütungskultur zu etablieren. Dabei gilt es die Balance zwischen Transparenz und Flexibilität zu wahren. Die Unternehmen sollten sich dazu einen Überblick darüber verschaffen, welche gesetzlichen Regelungen gelten.
Als Personalberater rate ich Unternehmen dringend, ihre Gehaltsstrukturen frühzeitig zu analysieren und ggf. anzupassen. Die Einführung einer Gehaltstransparenz sollte schrittweise erfolgen, zum Beispiel durch die Angabe von Gehaltsspannen oder Mindestbeträgen. Wichtig ist, dass die Kommunikation klar und kontextbezogen ist, um Missverständnisse zu vermeiden und die Unternehmenskultur zu stärken. In dem Zuge sind die Führungskräfte darauf vorzubereiten, dass sie dieses das Thema richtig kommunizieren. Es ist entscheidend, die Balance zwischen Transparenz und Flexibilität zu finden, um sowohl die internen als auch die externen Herausforderungen erfolgreich zu meistern.
Unternehmen müssen sicherstellen, dass die Kommunikation der Gehälter nicht nur nach außen, sondern auch nach innen klar und transparent erfolgt. Dies kann helfen, interne Spannungen zu vermeiden und gleichzeitig das Vertrauen der Belegschaft zu stärken. Personalberater spielen dabei eine wichtige Rolle, indem sie Unternehmen auf diesem Weg begleiten und unterstützen. Zu glauben, dass Mitarbeitende bisher nicht über Gehälter sprechen ist – auch wenn Arbeitsverträge hier Verschwiegenheit anordnen – unwahrscheinlich. Dann doch lieber gleich offen kommunizieren und begründen.
Unternehmen, die den Schritt der Entgelttransparenz proaktiv angehen, können nicht nur von einem besseren Arbeitgeberimage profitieren, sondern auch von einer effizienteren und erfolgreicheren Personalrekrutierung. Und es fällt ihnen nicht im Frühjahr 2026 ein, dass da jetzt eine schnelle Lösung her muss.